Organisation am Kipppunkt – Wie man den Moment der Veränderung erkennt

Manchmal sitze ich in ersten Gesprächen mit Unternehmen und spüre: Hier läuft etwas nicht rund – aber es ist nicht sofort klar, was. Die Zahlen sind okay, die Prozesse laufen, die Leute arbeiten. Und trotzdem: Etwas stimmt nicht mehr.

Es ist der Moment, in dem Organisationen merken: Was gestern noch funktioniert hat, trägt heute nicht mehr. Die Symptome sind unterschiedlich – die strategische Ausrichtung, die vor zwei Jahren noch klar war, wirkt diffus. Entscheidungen werden zäher. Die Umsetzung dauert länger. Teams haben Schwierigkeiten zu priorisieren. Das Feuer, der Antrieb – irgendwie ist die Energie nicht mehr spürbar.  

Die Organisation steht an einem Kipppunkt.

Was ist ein Kipppunkt?

Kipppunkte kennen wir aus der Systemtheorie und aus der Klimawissenschaft. In der Klimaforschung beschreibt ein Kipppunkt den Moment, ab dem sich ein System nicht mehr durch kleine Anpassungen stabilisieren lässt – ab dem es unwiderruflich in einen anderen Zustand übergeht. Denken wir an Gletscher, die über Jahrzehnte langsam schmelzen – bis sie einen Punkt erreichen, an dem das Abschmelzen sich selbst verstärkt und nicht mehr aufzuhalten ist. Es reicht dann nicht mehr, die Temperatur ein bisschen zu senken. Das System hat gekippt.

Ähnliches passiert in Organisationen. Über Jahre entwickeln sie Routinen. Prozesse laufen automatisch, Strukturen stehen, Rollen sind verteilt. Alles funktioniert. Die Organisation optimiert, passt sich an, wächst. Bis sie einen Punkt erreicht, an dem diese Routinen – die sie erfolgreich gemacht haben – plötzlich nicht mehr tragen. Nicht, weil sie schlecht geworden sind. Sondern weil die Organisation über sie hinausgewachsen ist.

Man reibt sich an Abläufe, die jahrelang selbstverständlich waren. Entscheidungen, die früher schnell fielen, brauchen plötzlich vier Abstimmungsrunden. Teams, die sich früher im Flur abgestimmt haben, wissen nicht mehr, wer eigentlich wofür zuständig ist. Die strategische Klarheit, die vor zwei Jahren noch da war, ist diffus geworden.

Was vorher selbstverständlich war, wird plötzlich bewusst. Und anstrengend.

Das ist der Kipppunkt: Der Moment, ab dem Optimierung nicht mehr reicht. An dem man nicht mehr nur "ein bisschen besser" werden, sondern grundlegend anders arbeiten, entscheiden, sich organisieren muss. Die alte Logik funktioniert systemisch nicht mehr – nicht weil sie falsch war, sondern weil sich der Kontext fundamental verändert hat.

Und genau das macht Kipppunkte so herausfordernd: Man kann nicht einfach zurück. Aber man kann auch nicht weitermachen wie bisher.

Wie erkenne ich, dass ich an einem Kipppunkt stehe?

Nicht alle Kipppunkte sind gleich. Was für eine junge Organisation mit 50 Mitarbeitenden eine existenzielle Herausforderung ist, hat ein etabliertes Unternehmen mit 2000 Leuten möglicherweise längst gelöst – oder noch gar nicht auf dem Schirm.

Ein Modell, das ich in meiner Arbeit immer wieder heranziehe, ist das Wachstumsphasen-Modell von Larry Greiner. Es macht sichtbar, dass Organisationen je nach Größe, Alter und Entwicklungsstand an unterschiedlichen Kipppunkten stehen, um die sie nicht drum herum kommen.

Greiner beschreibt fünf Wachstumsphasen, die jeweils in spezifischen Krisen enden:

Phase I – Wachstum durch Kreativität: Die junge Organisation ist reaktionsschnell, kreativ, mit informellen Strukturen. Ein Gruppen-Konstrukt, das sich gerade formt. Irgendwann reicht der informelle Austausch nicht mehr – es braucht klare Führung.

Phase II – Wachstum durch Direktion: Führungsrollen werden etabliert, Prozesse formalisiert, erste Abteilungen entstehen. Es entsteht Struktur. Aber mit der Zeit wird die Führungsebene zum Bottleneck – zu viele Entscheidungen, zu wenig Durchlässigkeit.

Phase III – Wachstum durch Delegation: Die Organisation – hier sprechen wir von bis zu 200 Mitarbeiter:innen – gibt Verantwortung ab, Mitarbeitende bekommen mehr Spielraum. Das funktioniert – bis es schwieriger wird, sich intern abzustimmen und den Überblick zu behalten.

Phase IV – Wachstum durch Koordination: Systeme, Prozesse und Koordinationsmechanismen werden ausgebaut. Denken wir hier an Unternehmen, die in 15-20 Jahren auf 8000 Mitarbeitende gewachsen sind. Die Komplexität steigt exponentiell.

Phase V – Wachstum durch Kollaboration: Die Organisation sucht nach flexibleren Formen der Zusammenarbeit. Aber Regeln und Prozesse hemmen zunehmend die Innovationskraft, die in Phase I noch selbstverständlich war.

Natürlich ist das Modell nicht perfekt – Unternehmenswachstum verläuft nicht immer linear. Aber genau das ist der Punkt: Es macht sichtbar, dass Kipppunkte kontextabhängig sind.

Wenn ich mit Organisationen arbeite, frage ich deshalb nicht nur: „Was läuft nicht?" Sondern: „Wo steht ihr gerade – und welche Logik hat euch bis hierhin getragen?"
Die Symptome, die auf einen Kipppunkt hindeuten, sind oft diffus. Aber es gibt Muster, die immer wieder auftauchen:

  • „Warum machen wir das eigentlich noch so?"

  • „Passt das noch zu dem, was wir erreichen wollen?"

Wenn diese Fragen nicht nur an einer Stelle auftauchen, sondern an verschiedenen: bspw. in Meetings, in Flurgesprächen oder in Führungsrunden. Wenn unterschiedliche Menschen auf unterschiedlichen Ebenen Ähnliches wahrnehmen – dann ist das ein starkes Signal.

Da ist das Verhältnis zwischen Unbehagen und Stabilität. Solange das Bestehende noch ausreichend trägt, bleibt der Wunsch nach Veränderung diffus. Aber wenn die Reibung zunimmt, wenn die Unzufriedenheit wächst – bei Mitarbeitenden, bei Führungskräften, manchmal auch bei Kunden – dann kippt etwas.

Und da ist die Identitätsfrage. Organisationen verbinden mit sich selbst eine bestimmte Art zu arbeiten, eine bestimmte Flexibilität, eine bestimmte Wachstumslogik. Aber ab einer gewissen Größe funktioniert diese Logik systemisch einfach nicht mehr. Die Organisation ist längst in einer anderen Phase – und das kann eine schmerzliche Erkenntnis sein. Weil dann die Frage im Raum steht: Was müssen wir loslassen, auch wenn es uns einmal ausgemacht hat?

In meiner Beratungspraxis erlebe ich oft diese Paradoxie: Organisationen, die sich zu früh verändern wollen, ernten Widerstand – „Uns geht es doch noch gut, warum sollen wir etwas riskieren?" Organisationen, die zu spät reagieren, haben oft nicht mehr die Kraft für echte Transformation.

Wann ist der richtige Zeitpunkt, einen Kipppunkt zu überschreiten?

Den Kipppunkt zu erkennen, ist der erste Schritt. Aber wann handelt man? Wann ist der Moment, an dem eine Organisation nicht mehr nur optimiert, sondern sich neu erfindet?

Erinnern wir uns an die Gletscher: Sie schmelzen über Jahrzehnte langsam – bis sie einen Punkt erreichen, an dem das Abschmelzen sich selbst verstärkt und nicht mehr aufzuhalten ist. Genau so ist es auch bei Organisationen. Es gibt einen Moment, ab dem man nicht mehr entscheiden kann, ob man handelt. Man muss.

Dieser Moment kommt oft durch klare Katalysatoren – Ereignisse, die keinen Entscheidungsspielraum mehr lassen:

Der Druck von außen wird zu groß. Der Markt versucht die Organisation zu verdrängen. Wettbewerber sind schneller, agiler, günstiger. Kunden wandern ab. Was jahrelang funktioniert hat, wird plötzlich zur Existenzfrage.

Investoren und Shareholder üben Veränderungsdruck aus. Venture Capital-Geber fordern Skalierung oder Profitabilität – oft beides gleichzeitig. Private Equity sucht operative Effizienz und Margensteigerung. Aktionäre erwarten Quartalsergebnisse, die nicht mehr nur durch Optimierung zu erreichen sind. Der Druck kommt über Boards, über Reportings, über Finanzierungsrunden, die an Bedingungen geknüpft sind. Und er lässt wenig Spielraum: Entweder die Organisation liefert – oder sie verliert Kontrolle, Kapital, oder beides.

Schlüsselpersonen verlassen die Organisation. Menschen, die nicht nur Wissen und Beziehungen verkörpern, sondern Macht. Macht über Verantwortungsbereiche – weil sie die einzigen sind, die durchblicken, wer was entscheidet. Oder Macht durch ihre Art zu führen – weil sie informelle Autorität haben, die weit über ihre formale Rolle hinausgeht. Ihr Weggang hinterlässt nicht nur Lücken im Organigramm. Er destabilisiert Machtstrukturen, macht sichtbar, wie fragil die Organisation eigentlich aufgestellt ist. Und zwingt zur Reorganisation – oft unter Zeitdruck, ohne Vorbereitung, ohne dass klar ist, wie diese Macht verteilt werden soll.

In diesen Momenten ist die Entscheidung keine mehr. Sie ist erzwungen. Und das bedeutet: Man handelt aus der Krise heraus, nicht aus der Kraft.

Es gibt einen anderen Weg: Vorausschauend zu handeln. Bevor der Markt drängt. Bevor Investoren Druck machen. Bevor Schlüsselpersonen gehen. Den Kipppunkt zu gestalten, statt von ihm gezwungen zu werden.

Aber – und das ist die Herausforderung, die absolut nicht zu unterschätzen ist – wie hält man im Alltag, der noch nicht genügend Veränderungsdruck erzeugt, den Fokus? Wie überzeugt man Menschen davon, etwas zu ändern, wenn doch scheinbar alles läuft? Wie schafft man Dringlichkeit, ohne Panik?

Vorausschauendes Handeln braucht Mut. Es braucht die Bereitschaft, unbequeme Fragen zu stellen, wenn es noch bequem ist. Es braucht Führung, die nicht wartet, bis die Krise deutlich macht, was längst hätte sichtbar sein müssen.

Der beste Zeitpunkt, einen Kipppunkt anzugehen, ist: bevor man muss. Aber der schwierigste ist genau derselbe.

Wie gehe ich mit einem Kipppunkt um?

Organisationen sind lebende Systeme – man kann sie nicht wie Maschinen steuern. Man kann nicht einfach einen Hebel umlegen und erwarten, dass sich alles ändert. Stattdessen braucht es Raum für Reflexion. Zeit für Auseinandersetzung. Mut für echte Experimente.

Bereitschaft ist wichtig. Aber sie allein bewegt noch nichts. Die Frage ist: Wie gestalte ich diesen Prozess – so, dass er zur Organisation passt und wirksam wird?

Und es braucht ein Verständnis dafür, was an Kipppunkten passiert: Organisationen sind darauf ausgelegt, Stabilität zu schaffen. Routinen zu entwickeln. Sich selbst zu erhalten. Das ist ihre Stärke – und genau das macht Veränderung so herausfordernd. Nicht weil etwas falsch gemacht wurde, sondern weil das System tut, wofür es gebaut ist: funktionieren.

An einem Kipppunkt geht es deshalb nicht darum, schneller oder härter zu arbeiten. Sondern darum, innezuhalten und zu fragen: Was braucht es jetzt wirklich?

Was bedeutet das konkret?

Strategische Neuausrichtung als Prozess des Fragens, nicht des Festlegens.

Nicht nur: „Was ist unsere Vision 2030?" Sondern: „Welche Zukünfte sind möglich – und welche davon wollen wir mitgestalten?" Nicht nur: „Was sind unsere Ziele?" Sondern auch: „Welche Probleme wollen wir in Zukunft lösen – und welche nicht mehr?" „Was lassen wir los, um Raum für Neues zu schaffen?"

Das erfordert, Nichtwissen auszuhalten – nicht als Mangel, sondern als notwendigen Zustand strategischer Klarheit.

Organisationsstrukturen als Hypothesen verstehen.

Strukturen sind keine Wahrheiten, sondern Annahmen darüber, wie Zusammenarbeit funktioniert. Sie dürfen hinterfragt, verändert und angepasst werden. Das bedeutet nicht, dass man alle sechs Monate alles umwirft. Aber es bedeutet, dass man bereit ist, auch vermeintlich Bewährtes in Frage zu stellen.

In meiner Arbeit geht es oft darum, genau diese Hypothesen sichtbar zu machen: Warum ist die Struktur so, wie sie ist? Welche Annahme liegt zugrunde? Stimmt die noch?

Reibung und Ambivalenz zulassen.

Irritationen sind keine Störungen, sondern Signale. Es ist okay, nicht alles auf einmal ändern zu können. Es geht darum zu verstehen, was gerade dran ist.

Ich erlebe immer wieder, dass Organisationen sich unter Druck setzen, sofort alles richtig zu machen. Aber Veränderung ist kein Sprint. Sie ist ein Prozess, der Unsicherheit zulässt – und genau darin liegt ihre Kraft.

Was ist der Wert eines Kipppunkts?

Organisationen am Kipppunkt befinden sich in einer prekären Lage. Oft nicht, weil sie es gewählt haben, sondern weil äußerer Druck sie dazu zwingt – der Markt, Investoren, der Verlust von Schlüsselpersonen.

Aber vielleicht liegt genau darin der Wert: Man kann nicht mehr weitermachen wie bisher. Man muss innehalten. Man ist gezwungen, sich zu überdenken. Man muss sich neu denken.

Ein Kipppunkt stellt die existenzielle Frage: Verschwinden wir – oder erfinden wir uns neu?

Neu-Erfindung. Nicht Optimierung des Bestehenden, sondern das bewusste Loslassen dessen, was uns einmal ausgemacht hat, um Raum für etwas Neues zu schaffen. Das ist keine leichte Transformation. Es ist eine, die man aushalten muss. Eine prekäre Situation, aus der – wenn man sie zulässt – etwas entstehen kann, das vorher nicht denkbar war.

Ein Kipppunkt ist kein Ort, an dem man bleiben sollte. Es ist ein Moment, in dem die Zukunft entsteht. Wenn man die Fragen zulässt, die unbequem sind. Wenn man die Reibung aushält, die entsteht, wenn Altes und Neues aufeinandertreffen. Wenn man akzeptiert, dass Nichtwissen kein Mangel ist, sondern der Anfang von etwas Neuem.

Der Wert eines Kipppunkts liegt nicht darin, dass er angenehm ist. Sondern darin, dass er keine Wahl lässt – außer der, sich wirklich zu verändern.

Ein letzter Gedanke

Die Fragen, die an Kipppunkten auftauchen, sind komplex. Sie lassen sich nicht schnell zwischen Tür und Angel klären. Sie brauchen Raum für Reflexion, unterschiedliche Perspektiven – und manchmal auch jemanden von außen, der hilft, Klarheit zu schaffen.

Hier ist etwas, das ich in meiner Arbeit immer wieder erlebe: Die Antworten auf diese Fragen sind meistens bereits in der Organisation vorhanden. Nicht als fertige Lösung, die irgendwo in einer Schublade liegt. Sondern verstreut – in den Beobachtungen verschiedener Menschen, in den Irritationen, die noch nicht ausgesprochen wurden, in den Mustern, die sich wiederholen.

Systemisch betrachtet hält jede Organisation ausreichend "Lösungsmittel" bereit. Die Frage ist: Wie macht man sie sichtbar? Wie bringt man sie in einen produktiven Zusammenhang? Und wie kommt man schneller an die Klarheit, die für Entscheidungen nötig ist?

Genau hier setze ich an. Ich begleite Organisationen dabei, zu erkennen, an welchem Kipppunkt sie stehen – und was das für ihre nächsten Schritte bedeutet. Das kann bedeuten: Strategische Begleitung in Transformationsprozessen, Organisationsdesign, wenn Strukturen nicht mehr zur Strategie passen, oder Sparring für Führungsteams, die Klarheit gewinnen wollen, bevor sie Entscheidungen treffen. Von der Analyse – wo stehen wir? – über die Spezifizierung – was braucht es konkret? – bis zur Entwicklung und Umsetzung dessen, was wirklich trägt. Oft ist es eine Mischung aus allem, je nachdem, was die Organisation gerade braucht.

Denn jeder Kipppunkt ist anders. Und jeder verdient einen bewussten Umgang.


Ich bin Franziska Vieser, Organisationsentwicklerin und Beraterin für Unternehmen, die an einem Kipppunkt stehen. Hier schreibe ich über Strategie, Organisationsdesign und die Fragen, die entstehen, wenn das, was bisher funktioniert hat, nicht mehr trägt.

Ich begleite Führungsteams und Organisationen dabei zu erkennen, wo sie stehen – und was ihre nächsten Schritte sein könnten. Nicht mit fertigen Lösungen, sondern mit den richtigen Fragen.

Mehr über mich und meine Arbeit findest du auf www.franziskavieser.com

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Warum Nichtwissen zum strategischen Denken dazugehört