Warum Nichtwissen zum strategischen Denken dazugehört
Was ist eigentlich Strategie – und wie gehen wir mit Nichtwissen um?
Ein persönlicher Aufbruch
Im letzten Sommer bin ich vier Tage allein durch die Zillertaler Alpen gewandert. Von Hütte zu Hütte, auf dem Berliner Höhenweg – teilweise an der 3000-Meter-Grenze.
Ich hatte die Route sorgfältig geplant: frühzeitig Hütten gebucht, das Wetter beobachtet, auf vorhandene Kraft und Bergerfahrung vertraut. Und trotzdem kam es anders.
Die körperliche Belastung war größer, als ich erwartet hatte – vor allem in Kombination mit der Einsamkeit. Emotionen, die sich sonst gut regulieren lassen, kochten plötzlich hoch. Ich hatte meine Kräfte falsch eingeschätzt, die Höhe unterschätzt und mir selbst wenig Spielraum gelassen. Auch mein Körper meldete sich mit Unerwartetem – hormonell, erschöpft, überfordert.
Nach vier Tagen – bei bestem Wetter – entschied ich, abzubrechen. Nicht aus Scheitern, sondern aus Klarheit: Ich konnte nicht mehr. Und ich musste auch nicht mehr.
Was hat das mit Strategie zu tun? Eine ganze Menge – vor allem für Organisationen, die an einer Schwelle stehen. Die merken: So wie bisher geht es nicht weiter.
Strategie früher – und heute: Ein notwendiger Perspektivwechsel
Lange Zeit wurde Strategie als rationaler Plan verstanden: Die Führung analysiert Märkte, definiert Ziele, entwickelt Maßnahmen und gibt einen klaren Pfad vor. Doch dieses Bild stammt aus einer Zeit, in der Umweltbedingungen als stabil und weitgehend vorhersehbar galten.
Heute sind Unternehmen mit dynamischen, unsicheren Märkten konfrontiert. Der Wettbewerbsdruck steigt – nicht zuletzt durch technologische Sprünge wie KI, neue Geschäftsmodelle und hohe Umsetzungsgeschwindigkeit. Viele Organisationen stehen an einer Schwelle: Sie spüren die Notwendigkeit, sich neu auszurichten – wissen aber oft nicht, wie.
Studien zeigen: Über 70 % der Strategien scheitern an der Umsetzung. Nicht, weil sie inhaltlich falsch sind – sondern weil sie nicht in die Organisation hineinwirken. Fehlende Einbindung, strukturelle Trägheit und operative Überforderung bremsen gute Ideen aus.
Die Antwort? Adaptive Strategie. Erfolgreiche Unternehmen arbeiten mit Zyklen der Reflexion, Justierung und kollektiven Weiterentwicklung. Es geht nicht um den perfekten Plan, sondern um strategische Anschlussfähigkeit.
So wie ich meine Route geplant, aber unterwegs angepasst habe – weil die Realität nicht mitgespielt hat.
Systemischer Blick: Organisationen sind keine Maschinen
Die systemische Perspektive macht deutlich: Organisationen sind soziale Systeme, keine Maschinen. Ihre Reaktion auf Impulse ist nicht linear. Sie sind geprägt von Selbstorganisation, internen Dynamiken und kulturellen Mustern.
Was bedeutet das für Strategiearbeit?
1. Die Umwelt ist nicht durchschaubar.
2. Die Zukunft bleibt ungewiss.
3. Organisationen sind keine trivialen Maschinen.
Strategie ist damit nicht das Ergebnis eines Denkprozesses an der Spitze – sondern eine kollektive Leistung. Eine Haltung im Umgang mit Komplexität, Nichtwissen und Zielkonflikten.
Im systemischen Sinne heißt das: Nichtwissen anerkennen, Unsicherheit gestalten, Orientierung ermöglichen.
Strategie als kollektives Bedeutungsangebot
Reinhard K. Sprenger beschreibt Strategie als „Bedeutungsangebot zur kollektiven Orientierung“ – ein Bild, das ich sehr treffend finde. Denn in vielen Organisationen fehlt genau das: ein gemeinsamer Referenzrahmen, an dem sich Entscheidungen und Prioritäten ausrichten lassen.
Strategie bedeutet nicht, jede Frage im Voraus zu beantworten. Sondern Orientierung zu schaffen, die Entscheidungen auch in Bewegung ermöglicht. Und das geht nur, wenn Menschen einbezogen werden – nicht nur informiert.
Gerade bei Unternehmen, die sich neu erfinden (müssen), ist das entscheidend: Strategie muss Anschluss finden an Realität, an Struktur, an Kultur. Sonst bleibt sie ein Dokument. Oder ein Slide Deck.
Viele Unternehmen haben bereits erkannt, dass Veränderung nötig ist – und beginnen mit strategischen Neuausrichtungen. Doch häufig verharren sie in bestehenden Strukturen, Prozessen oder Führungskulturen, die nicht zur Strategie passen.
Die Folge: Strategien werden nicht wirksam. Sie sind zwar formuliert, aber nicht verankert. Es fehlt an Übersetzung, an Entscheidungsarchitekturen, an iterativen Lernräumen.
Deshalb ist jede echte Strategiearbeit zugleich ein Organisationsentwicklungsprozess. Und jede tiefgreifende Organisationsentwicklung hat strategische Auswirkungen. Beides ist untrennbar miteinander verwoben – inhaltlich, strukturell und kulturell.
Strategiewechsel: ein soziales Risiko
Strategiewechsel sind nicht nur sachliche Entscheidungen – sie sind auch soziale Zumutungen.
Als ich auf der Hütte entschied, abzubrechen, war es nicht nur mein Körper, der mir Grenzen zeigte. Es war auch mein Kopf, der sagte:
„Du hast doch allen erzählt, dass du fünf Tage wanderst. Wenn du jetzt aufhörst, denken alle, du hast es nicht geschafft.“
Genauso geht es auch Organisationen – und vor allem ihren Führungskräften:
- Was sagt es über uns aus, wenn wir die Strategie wechseln?
- Haben wir dann falsch entschieden?
- Wie reagiert der Markt? Die Belegschaft? Der Aufsichtsrat?
Kein Wunder, dass Richtungswechsel oft zu spät kommen – oder verschleiert werden. Dabei ist Klarheit über das Nicht-Mehr der erste Schritt zu echtem Neuanfang.
Was ich mitgenommen habe
Klarheit entsteht nicht im Durchziehen um jeden Preis – sondern im Mut zur Kursänderung. Nicht trotz, sondern wegen der Verantwortung. Und manchmal ist die entscheidendste strategische Fähigkeit: innezuhalten, ehrlich auf die Realität zu schauen – und eine neue Entscheidung zu treffen.
Strategieentwicklung bedeutet genau das: Räume zu schaffen, in denen Realität reflektiert werden darf – ohne Gesichtsverlust. Wo Kurskorrekturen nicht als Scheitern gelten, sondern als Ausdruck von Verantwortung, Beweglichkeit und strategischer Reife.
Was bedeutet das für eure Organisation?
Wie viel Raum lasst ihr für Nichtwissen – in Strategieprozessen, in Führung, im Alltag?
Wo haltet ihr an Plänen fest, obwohl die Realität längst eine andere ist?
Was würde passieren, wenn ihr euch erlaubt, den Kurs zu korrigieren?
👉 Strategische Klarheit entsteht nicht durch Tempo. Sondern durch den Mut, Nichtwissen auszuhalten.
Ich begleite euch dabei, Orientierung zu schaffen – bevor Strukturen entstehen.
Mehr über mich und meine Arbeit: www.franziskavieser.com